Nr. 9 / Dezember 1998

















Gästebuch


Jenseits von retro - das Londoner Label Soul Jazz

2-2.jpg (14819 Byte)Auch unbedarftere Musikhörer erinnern sich an die 1996 erschienene, phantastische "Nu Yorica!" Kompilation des Londoner Labels Soul Jazz - auch das bestverkaufte Produkt dieser Firma so far. Mögen auch deren Erzeugnisse von der deutschen Kritik zumindest bisher schmählich vernachlässigt worden sein, fand zumindest diese Veröffentlichung etwas Beachtung (und war u.a. "Platte des Monats" in der Spex). Für LEESON-Redakteur Christoph Linder ist das eklektische Universum dieses Unternehmens ein Objekt ständig wachsender Liebe: 70er Jahre Space Jazz tief in wiedererwachtes, schwarzes Bewußtsein getränkt, field recordings fantastischer, cubanischer Santeria Musik, brillante Wiederveröffentlichungen von obskurem Funk und Latin Material. Höchste Zeit also, einmal mit Seelen-Jazz mastermind Stuart Baker über Musik, ihre soziale Funktion und den ganzen Rest zu plaudern...

Willkommen bei der Ästhetik des culture clash!

Baker, der als Boss - er würde den Begriff hassen - über ein achtköpfiges Team von Mitarbeitern und ein Imperium von immerhin 3 Labels, einem Plattenladen (der wie das Label im swingenden Herz von SoHo am Ingestre Place sitzt) und zwei regelmäßige Clubnächte (die praktischerweise wie zwei Soul Jazz releases "Nu Yorica" und "100 % Dynamite" heißen) herrscht, sieht sich als ausgebildeter Fotograf eher als Quereinsteiger ins Musikbusiness - mag er auch früher, wie wohl jeder englische Art School Student, in obskuren Bands wie den "Earth, Wind + Fire Extinguishers" gespielt haben. Neben "Soul Jazz" und dem Sub-Label Universal Sound, das Fragen eines erwachenden "schwarzen"  Selbstbewußtseins auf fast magische Weise dekliniert, führt man aber auch "Satellite Records" - hier werden lediglich aktuelle Aufnahmen veröffentlich, die laut Stuart seine Begeisterung für Soul und Jazz mit einer frühen Vorliebe für Punk verbinden - immerhin hat Satellite die jetzt mit einem Majordeal gesegneten und in England sehr populäre Elektronik-Band Add N to X und die verschrobene Ami-Rock-Band Scott 4 entdeckt.
Während in the UK Wiederveröffentlichungen von 70er Jahre Material im Rahmen der unsäglichen Acid Jazz Bewegung durchaus Tradition haben, sieht Stuart den Schwerpunkt von Soul Jazz woanders: "Mich interessiert die Verbindung zwischen Musik und Gesellschaft, also wie die Musik in der Gesellschaft funktioniert..." umreißt der 33jährige seine Ideen (Soul Jazz funktioniert also im gewissen Sinne im Vergleich zum üblichen Wald-und-Wiesen Rare Groove Label wie Emergency Room zur Schwarz-waldklinik - Anbindung an die soziale Realität garantiert). Daß das durchaus nicht banal sein muß oder gar verbiestert unsexy, beweist das jüngste Soul Jazz Release "Chicano Power", insbesondere auch in der opulenten Doppel-Vinyl Version mit Klappcover eine Zierde für jede Sammlung. "Chicano Power" zieht die Verbindungslinie zwischen der am Modell der schwarzen Emanzipationsbewegung der 60er Jahre angelehnten lateinamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den USA der 70er und dem entstehenden Latinrock dieser Zeit, der als Mixtur aus psychedelischen Rockelementen und der traditionellen lateinamerikanischen Kulturen des Salsa und der Cumbia perfektes Abbild der Lebenswelt der US-amerikanischen Latinos und ebenso deren politisches Sprachrohr war.

Faszinierend ist hierbei der Übergang zwischen den Stilen und Kulturen, deren Auseinandersetzung: "I think it makes a healthier society if you bring in things all the time..." Besonders stolz ist Stuart darauf, auch einen Track, eine schöne, etwas schnellere Alternate Version von "Soul Sacrifice" der archetypischen Latinrock-Band Santana lizensiert bekommen zu haben. Dickes Lob gab es auch von Santanas Management, das übrigens seit Jahren in den Händen von Santanas Bruder Jorge liegt (früher Gitarrist der notorisch unterschätzten Bay Area Band Malo, die natürlich ebenso auf "Chicano Power" zu finden sind, und mindestens ein ebenso begnadeter Stilist wie sein Bruder Carlos): "The best compilation so far", verkündete ein begeistertes Fax aus den Staaten. Stuart: "An Santana hat mich fasziniert, was für eine machtvolle und unabhängige Stellung er sich innerhalb des Business erkämpft hat - auch ein Form von Emanzipation..."

chicano.jpg (19970 Byte)Apropos Lizenzen: Eher der unerfreuliche Teil in der Arbeit von Soul Jazz, aber ein wichtiger. Allein um die Rechte für die Stücke von "Chicano Power" zu klären, arbeitete das Soul-Jazz-Team neun Monate (!) bis eine Woche vor dem geplanten Veröffentlichungstermin, und manche von Stuarts Traumprojekten - wie etwa eine Zusammenstellung der schönsten Stücke von Pharoah Sanders oder seines ehemaligen Sängers, des faszinierenden Jazz-jodlers Leon Thomas (noch so ein Unterschätzter - sang zeitweise auch bei Santana) waren gar keine Rechte zu bekommen. Schade! Das manchmal kitschige aber durchaus tiefempfundene Ringen Sanders um spirituelle Tiefe, das sich auch in seinen klassischen Alben der Endsechziger widerspiegelt (checkt "Karma" mit dem phantastischen "The Creator had a Masterplan", Leute!) ist auch ein Anliegen von Soul Jazz: "Während mich an "Chicano Power" eher der Punkt eines politischen Wandels interessiert hat, handelt die Santeria Platte oder "Faith" eher von spirituellen Angelegenheiten." "Faith - a Message from the Spirits", durchaus als durchgeknalltes Hörspiel hörbar, ist eine fast soziologische Abhandlung wie sich Religiosität in verschieden Kulturen in Musik überführen läßt - die vielleicht experimentellste Soul Jazz Platte, deren Spektrum vom amerikanischen TV-Evangelisten bis hin zu asiatischen Tempeltänzern reicht.

Trotzdem bleibt Stuarts Ansatz undogmatisch und weitab von tiefer konzeptueller Denke: "Oh, jetzt hab ich dich verwirrt", grinst Stuart, als er mir seine Ideen nahebringen will, und sich verhaspelt, "und mich selbst dazu..." "Hey Stuart, was können wir also demnächst von Soul Jazz erwarten?" - "Zunächst kommt "100% Dynamite", das eine Reise in die vielfältige Musiken Jamaicas verspricht - ob dann hinterher wie geplant tatsächlich eine Platte mit haitianischen Volksmusik erscheint, die ich bei den Sessions zu "Faith" aufgenommen habe, steht noch in den Sternen - das Zeug ist einfach zu schwer zu verkaufen..."
 
 

SOUNDS OF THE UNIVERSE

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12 Ingestre Place, London W1R  3LP  England
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SOUL JAZZ DISKOGRAPHIE

Soul Jazz

London Jazz Classics 1, 2 & 3
Classics 1 SJR LP/CD 08
Classics 2 SJR LP/CD 17
Classics 3 SJR LP/CD 26
Soul Jazz Love Strata East SJR LP/CD 19
Jessica Lauren Siren Song SJR LP/CD 20
Eight Up Lie Down and Stay Calm SJR LP/CD 21
Brasil SJR LP/CD 22
Esperanto SJR LP/CD 23
Universal Sounds of America SJR LP/CD 27
Nu Yorica! Culture Clash in New York City
SJR LP/CD 29
Chris Bowden Time Capsule SJR LP/CD 32
Faith A Message From the Spirits SJR LP/CD 34
Nu Yorica 2! Further Adventures in Latin Music SJR LP/CD 36
Batucada/Capoeira SJR LP/CD 37
Santeria SJR LP/CD 38
Chicano Power! Latin Rock in the USA SJR LP/CD 39

Universal Sound

Best of Doug Carn US LP/CD 1
Best of Black Jazz US LP/CD 2
Best of Banda Black Rio US LP/CD 3
Best of Ocho US LP/CD 4
Message from the Tribe
An Anthology of Tribe Records US LP/CD 5
Strata 2 East US LP/CD 6
Papete: Percussao e Berimbau Music and Rhythms of Brasil US LP/CD 7
• Alle Universal Sound/Soul Jazz Platten sollten über Indigo in jedem guten deutschen Musikgeschäft erhältlich sein

Letzte Änderungen: 24.08.2006
Produziert von
Peter Pötsch