Jenseits von
retro - das Londoner Label Soul Jazz
Auch
unbedarftere Musikhörer erinnern sich an die 1996 erschienene, phantastische
"Nu Yorica!" Kompilation des Londoner Labels Soul Jazz
- auch das bestverkaufte Produkt dieser Firma so far. Mögen auch
deren Erzeugnisse von der deutschen Kritik zumindest bisher schmählich
vernachlässigt worden sein, fand zumindest diese Veröffentlichung
etwas Beachtung (und war u.a. "Platte des Monats" in der
Spex). Für LEESON-Redakteur Christoph Linder ist das eklektische
Universum dieses Unternehmens ein Objekt ständig wachsender Liebe:
70er Jahre Space Jazz tief in wiedererwachtes, schwarzes Bewußtsein
getränkt, field recordings fantastischer, cubanischer Santeria Musik,
brillante Wiederveröffentlichungen von obskurem Funk und Latin Material.
Höchste Zeit also, einmal mit Seelen-Jazz mastermind Stuart Baker
über Musik, ihre soziale Funktion und den ganzen Rest zu plaudern...
Willkommen
bei der Ästhetik des culture clash!
Baker, der als
Boss - er würde den Begriff hassen - über ein achtköpfiges Team
von Mitarbeitern und ein Imperium von immerhin 3 Labels, einem Plattenladen
(der wie das Label im swingenden Herz von SoHo am Ingestre Place
sitzt) und zwei regelmäßige Clubnächte (die praktischerweise wie
zwei Soul Jazz releases "Nu Yorica" und "100 % Dynamite"
heißen) herrscht, sieht sich als ausgebildeter Fotograf eher als
Quereinsteiger ins Musikbusiness - mag er auch früher, wie wohl
jeder englische Art School Student, in obskuren Bands wie den "Earth,
Wind + Fire Extinguishers" gespielt haben. Neben "Soul
Jazz" und dem Sub-Label Universal Sound, das Fragen eines erwachenden
"schwarzen" Selbstbewußtseins auf fast magische
Weise dekliniert, führt man aber auch "Satellite Records"
- hier werden lediglich aktuelle Aufnahmen veröffentlich, die laut
Stuart seine Begeisterung für Soul und Jazz mit einer frühen Vorliebe
für Punk verbinden - immerhin hat Satellite die jetzt mit einem
Majordeal gesegneten und in England sehr populäre Elektronik-Band
Add N to X und die verschrobene Ami-Rock-Band Scott 4 entdeckt.
Während in the UK Wiederveröffentlichungen von 70er Jahre Material
im Rahmen der unsäglichen Acid Jazz Bewegung durchaus Tradition
haben, sieht Stuart den Schwerpunkt von Soul Jazz woanders: "Mich
interessiert die Verbindung zwischen Musik und Gesellschaft, also
wie die Musik in der Gesellschaft funktioniert..." umreißt
der 33jährige seine Ideen (Soul Jazz funktioniert also im gewissen
Sinne im Vergleich zum üblichen Wald-und-Wiesen Rare Groove Label
wie Emergency Room zur Schwarz-waldklinik - Anbindung an die soziale
Realität garantiert). Daß das durchaus nicht banal sein muß oder
gar verbiestert unsexy, beweist das jüngste Soul Jazz Release "Chicano
Power", insbesondere auch in der opulenten Doppel-Vinyl Version
mit Klappcover eine Zierde für jede Sammlung. "Chicano Power"
zieht die Verbindungslinie zwischen der am Modell der schwarzen
Emanzipationsbewegung der 60er Jahre angelehnten lateinamerikanischen
Bürgerrechtsbewegung in den USA der 70er und dem entstehenden Latinrock
dieser Zeit, der als Mixtur aus psychedelischen Rockelementen und
der traditionellen lateinamerikanischen Kulturen des Salsa und der
Cumbia perfektes Abbild der Lebenswelt der US-amerikanischen Latinos
und ebenso deren politisches Sprachrohr war.
Faszinierend
ist hierbei der Übergang zwischen den Stilen und Kulturen, deren
Auseinandersetzung: "I think it makes a healthier society if
you bring in things all the time..." Besonders stolz ist Stuart
darauf, auch einen Track, eine schöne, etwas schnellere Alternate
Version von "Soul Sacrifice" der archetypischen Latinrock-Band
Santana lizensiert bekommen zu haben. Dickes Lob gab es auch von
Santanas Management, das übrigens seit Jahren in den Händen von
Santanas Bruder Jorge liegt (früher Gitarrist der notorisch unterschätzten
Bay Area Band Malo, die natürlich ebenso auf "Chicano Power"
zu finden sind, und mindestens ein ebenso begnadeter Stilist wie
sein Bruder Carlos): "The best compilation so far", verkündete
ein begeistertes Fax aus den Staaten. Stuart: "An Santana hat
mich fasziniert, was für eine machtvolle und unabhängige Stellung
er sich innerhalb des Business erkämpft hat - auch ein Form von
Emanzipation..."
Apropos
Lizenzen: Eher der unerfreuliche Teil in der Arbeit von Soul Jazz,
aber ein wichtiger. Allein um die Rechte für die Stücke von "Chicano
Power" zu klären, arbeitete das Soul-Jazz-Team neun Monate
(!) bis eine Woche vor dem geplanten Veröffentlichungstermin, und
manche von Stuarts Traumprojekten - wie etwa eine Zusammenstellung
der schönsten Stücke von Pharoah Sanders oder seines ehemaligen
Sängers, des faszinierenden Jazz-jodlers Leon Thomas (noch so ein
Unterschätzter - sang zeitweise auch bei Santana) waren gar keine
Rechte zu bekommen. Schade! Das manchmal kitschige aber durchaus
tiefempfundene Ringen Sanders um spirituelle Tiefe, das sich auch
in seinen klassischen Alben der Endsechziger widerspiegelt (checkt
"Karma" mit dem phantastischen "The Creator had a
Masterplan", Leute!) ist auch ein Anliegen von Soul Jazz: "Während
mich an "Chicano Power" eher der Punkt eines politischen
Wandels interessiert hat, handelt die Santeria Platte oder "Faith"
eher von spirituellen Angelegenheiten." "Faith - a Message
from the Spirits", durchaus als durchgeknalltes Hörspiel hörbar,
ist eine fast soziologische Abhandlung wie sich Religiosität in
verschieden Kulturen in Musik überführen läßt - die vielleicht experimentellste
Soul Jazz Platte, deren Spektrum vom amerikanischen TV-Evangelisten
bis hin zu asiatischen Tempeltänzern reicht.
Trotzdem bleibt
Stuarts Ansatz undogmatisch und weitab von tiefer konzeptueller
Denke: "Oh, jetzt hab ich dich verwirrt", grinst Stuart,
als er mir seine Ideen nahebringen will, und sich verhaspelt, "und
mich selbst dazu..." "Hey Stuart, was können wir also
demnächst von Soul Jazz erwarten?" - "Zunächst kommt "100%
Dynamite", das eine Reise in die vielfältige Musiken Jamaicas
verspricht - ob dann hinterher wie geplant tatsächlich eine Platte
mit haitianischen Volksmusik erscheint, die ich bei den Sessions
zu "Faith" aufgenommen habe, steht noch in den Sternen
- das Zeug ist einfach zu schwer zu verkaufen..."
SOUNDS OF THE
UNIVERSE
Soul Jazz Shop
Info
12 Ingestre Place, London W1R 3LP England
tel/fax 0044.171.4942004
e-mail soundsoftheuniverse@compuserve.com
mailorder über
http://www.soundsoftheuniverse.com/
SOUL JAZZ DISKOGRAPHIE
Soul Jazz
London Jazz
Classics 1, 2 & 3
Classics 1 SJR LP/CD 08
Classics 2 SJR LP/CD 17
Classics 3 SJR LP/CD 26
Soul Jazz Love Strata East SJR LP/CD 19
Jessica Lauren Siren Song SJR LP/CD 20
Eight Up Lie Down and Stay Calm SJR LP/CD 21
Brasil SJR LP/CD 22
Esperanto SJR LP/CD 23
Universal Sounds of America SJR LP/CD 27
Nu Yorica! Culture Clash in New York City
SJR LP/CD 29
Chris Bowden Time Capsule SJR LP/CD 32
Faith A Message From the Spirits SJR LP/CD 34
Nu Yorica 2! Further Adventures in Latin Music SJR LP/CD 36
Batucada/Capoeira SJR LP/CD 37
Santeria SJR LP/CD 38
Chicano Power! Latin Rock in the USA SJR LP/CD 39
Universal Sound
Best of Doug
Carn US LP/CD 1
Best of Black Jazz US LP/CD 2
Best of Banda Black Rio US LP/CD 3
Best of Ocho US LP/CD 4
Message from the Tribe
An Anthology of Tribe Records US LP/CD 5
Strata 2 East US LP/CD 6
Papete: Percussao e Berimbau Music and Rhythms of Brasil US LP/CD
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• Alle Universal Sound/Soul Jazz Platten sollten über Indigo
in jedem guten deutschen Musikgeschäft erhältlich sein |